Sancerre
Die legendären Sauvignon Blanc Weine von der Loire
Die Gründe, warum die Weine aus Sancerre in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts mit zu den beliebtesten Weißweinen der Welt avancierten, liegen auf der Hand: Da ist zunächst der hohe Wiedererkennungswert der Rebsorte Sauvignon Blanc mit Ihren charakteristischen Aromen von schwarzer Johannisbeere, Stachelbeere, Zitrusfrüchten und oftmals grünen Anklängen nach frisch gemähtem Heu und Paprika. Dass die Weine in den meisten Fällen keine langjährige Flaschenreife im heimischen Keller benötigen, gereicht ihnen in unserer kurzlebigen Zeit zum Vorteil. Ihre animierende Frische schärft die Sinne und prädestiniert sie als Aperitif. Und nicht zuletzt erweisen sich die Weine mit ihrer intensiven Aromatik als sprichwörtliches Schweizer Taschenmesser bei der Essensbegleitung: ganz gleich ob Fisch, grünes Gemüse, außereuropäische Gerichte oder Ziegenkäse – all dies trägt ein weißer Sancerre mit stoischer Gelassenheit und dem ausgeprägten Willen zur Genussmaximierung. Damit wäre alles Wesentliche zu Sancerre gesagt? – Mitnichten.
Ein warmer Tag im August. Unser Blick schweift vom Gipfel der Sancerre-Lage Les Culs de Beaujeu Richtung Osten und überblickt er ein dichtes Rebenmeer. Auf der übernächsten Hügelkuppe thront wie verzaubert das mittelalterliche Städtchen Sancerre mit seinen engen Gassen, nach dem die Appellation benannt ist. Ein massives Steinkreuz in unserem Rücken mag uns daran erinnern, dass der zu Füßen steil abfallende Weinberg im Jahr 1328 von Mönchen angelegt wurde. Damals wurde er noch von einer Steinmauer umfriedet, worauf der ursprüngliche Name Clos de Beaujeu verweist, der sich heute nur noch auf Weinetiketten findet. Aber was es tatsächlich mit dem Steinkreuz auf sich hat, werden wir später erfahren.
Folgt der Blick den Linien der Rebzeilen hinab ins Tal, fällt er auf den Flickenteppich der Hausdächer von Chavignol. Hier wird mit dem Crottin de Chavignol einer des besten Ziegenkäse Frankreichs produziert. Einige der renommiertesten Winzer der Appellation Sancerre wie beispielsweise Pascal Cotat oder Gérard Boulay haben in diesem kleinen Weiler ihren Sitz. Und einige der namhaftesten Weinbergslagen von Sancerre finden sich hier.
Zwar verfügt Sancerre im Gegensatz zum Burgund über keine Cru-klassifizierten Lagen. Dennoch sind es deren Namen oder der Hinweis auf eine geologische Bodenformation, die erlauben, vom Etikett einer Flasche Sancerre Rückschlüsse auf dessen Inhalt zu ziehen. Dabei gilt es, geologische, topographische und daraus resultierende mesoklimatische Gegebenheiten zu beachten.
Um dies zu illustrieren, verlassen wir unseren angestammten Platz auf dem Weinbergsgipfel gegenüber dem Städtchen Sancerre, steigen höher hinauf in die Lüfte und blicken aus der Vogelperspektive auf das Weinbaugebiet hinab.
Die geographische Lage und das Klima von Sancerre
Auf halber Strecke des Loire-Verlaufs zwischen Quelle und Mündung liegt in der Region Centre die Appellation Sancerre. In 14 Dörfern und 3 Weilern rund um das namensgebende Hügelstädtchen wird auf rund 3.000 Hektar Rebfläche zwischen 200 und 350 Meter über dem Meeresspiegel von knapp 300 Winzern Wein angebaut. 80 Prozent der Rebfläche sind mit Sauvignon Blanc bestockt, 20 Prozent mit Pinot Noir.
Das Klima ist kontinental beeinflusst mit kalten Wintern und warmen Sommern. Das von Hecken und Bäumen durchzogenen Pays Fort im Westen mäßigt den atlantischen Einfluss und schützt vor feuchten, regenbringenden Winden. Die hügelige Landschaft des Loire-Tals im Osten mildert den Einfluss kalter Luftströme. Hinzu kommt der ausgleichende Einfluss der Loire.
Die Böden sind kalkhaltig. Da aber Kalkstein nicht gleich Kalkstein ist, sondern große Unterschiede im Hinblick auf das Alter, die Zusammensetzung, die Struktur und seine physikalischen Eigenschaften aufweist, lohnt sich hier ein genauerer Blick.
Griottes, Caillotes, Silex, Terres Blanches – die Böden von Sancerre
Grundsätzlich werden drei Bodentypen in Sancerre unterschieden. Westlich der Stadt Sancerre finden sich vor allem kalkhaltige Schotterböden, die aus der unteren chronostratigraphischen Stufe des Jura, dem sogenannten Oxfordium stammen, das vor rund 157 Millionen Jahren endete. Kalkstein aus dem Oxfordium ist weich und bricht leicht. Je nach Größe der Bruchstücke werden die Griottes-genannten Böden mit kleinteiligeren Bruchstücken und die von größeren Steinen dominierten Cailottes-Böden unterschieden. Von beiden stammen delikate, eher leichte Weine, die für gewöhnlich kein hohes Reifepotential aufweisen und zumeist binnen fünf Jahren nach der Lese getrunken werden sollten. Es sind diese Easy-drinking-Vertreter, die maßgeblich zum weltweiten Erfolg des Sancerre beigetragen haben.
Um das Städtchen Sancerre herum, aber auch an anderen, vereinzelten Stellen der Appellation finden sich Böden, die Feuerstein - auf französisch Silex - enthalten. Die Weine, die darauf wachsen haben eine ausgeprägte Zitrusfrische, Kräuteranklänge, geraten fast scharf, finessenreich und feingliedrig. Feuerstein verfügt zunächst über hervorragende wärmespeichernde Eigenschaften, was in einer kühlen Weinregion wie Sancerre stets von Vorteil ist. Kenner sagen im überdies nach, dass er für die rauchigen Noten verantwortlich sei, die häufig in Weinen von Silex-Böden zu finden sind. Ihr Alterungspotential liegt weit über den Weinen von Oxfordium-Böden.
Vor allem im Süden und Westen und der Appellation - aber auch im bereits erwähnten Weiler Chavignol - finden sich die Terres Blanches-genannten, tonhaltigen Kalkstein-Mergel-Böden, denen der höchste Lobpreis in Sancerre zuteil wird. Von ihnen stammen die kräftigsten Weine. Ihren Ursprung haben sie im Kimmeridgium, das auf das Oxfordium folgte und vor rund 152 Millionen Jahren endete. Es sind die gleichen Böden, die uns auch im Chablis und in der Champagne begegnen. Auf ihnen wachsen außergewöhnlich dichte und strukturierte Weine. Bereits in ihrer Jugend Maienblüte mögen diese Weine verzaubern. Aber nach 10, 15, 20 Jahren Flaschenreife geschieht etwas Magisches: Die reduktiv ausgebauten Vertreter entwickeln eine noble vegetabile Würze, die an Spargel und Trüffel erinnern kann. Die oxidativen Varianten gewinnen verführerische Anklänge an Honig und kandierten Früchte.
Les Culs de Beaujeu, Les Monts Damnés, La Côte – die Toplagen von Sancerre
Damit kehren wir zu dem Ausgangspunkt unserer Reise, auf den Gipfel der Lage Les Culs de Beaujeu zurück. Auch der zu Füßen steil abfallende Hang besteht aus Terres Blanches-Böden. Dank seiner süd-östlichen Exposition und einer Neigung von bis zu 70 Prozent können die Reben die Sonnenstrahlen optimal einfangen und vollreifes Lesegut hervorbringen. In den Händen des richtigen Winzers ergeben die hier wachsenden Trauben Weine von beeindruckender Tiefe mit Anklängen an Kräuter und Tropenfrüchte. Dies liegt nicht zuletzt auch an dem engen Talzuschnitt, das über ein besonders warmes Mesoklima verfügt.
Wärmer ist nur die süd-westlich orientierte Lage Les Monts Damnés, die von unserer Position aus linker Hand zu sehen ist. Zudem ist diese bekannteste Lage der Appellation Sancerre mit bis zu 100 Prozent Neigung noch steiler als Les Culs des Beaujeu. Wie beschwerlich die Arbeit im Weinberg gerät, verrät schon der Lagenname „verdammte Berge“, in dem unverkennbar der Fluch eines Weinbergsarbeiters über die Arbeitsstrapazen mitschwingt. Eine stetig wehende Brise sorgt für gesundes Lesematerial. Die hier entstehenden Weine gehören zu den reifsten und muskulösesten der gesamten Appellation, neben denen die meisten anderen Sancerre schwachbrüstig anmuten.
Die dritte Toplage von Sancerre befindet sich rechter Hand im Nachbardorf Amigny: La Côte oder auch La Grande Côte ist deutlich kühler als die erstgenannten Lagen, weshalb hier die Trauben später ausreifen und die Lese später stattfindet. Die Weine beeindrucken mit einem hellen Aromenprofil, nuancenreicher Finesse und einer vibrierenden Mineralität.
Pinot Noir – Rotwein und Rosé aus Sancerre
Das hohe Renommée der Weißen aus Sancerre lässt fast vergessen, dass 20 Prozent der Rebfläche mit Pinot Noir bestockt sind, aus denen anteilig an der Gesamtproduktion 13 Prozent Rotwein und sieben Prozent Rosé gekeltert werden.
Obgleich die Rosés aus Sancerre vergleichsweise selten sind, gehören sie unbezweifelbar zu den elegantesten und spannungsreichsten Rosés Frankreichs. Sie verströmen intensive Düfte von roten Beeren und Zitrusfrüchten, ergänzt um florale und rauchige Noten. Und sie bieten sich als wahrlich hedonistische Ergänzung zu Fisch und Meeresfrüchten an.
Die Rotweine, die einst das Gros der Weinproduktion in Sancerre bildeten, finden hier Bedingungen, die denen im Burgund ähneln. Und tatsächlich wachsen hier Weine, die sich als kostengünstigere Alternative zu roten Burgundern bis hoch zum Village-Niveau empfehlen.
Der Großteil der Rotweine wird aus Trauben von verschiedenen Bodenformationen produziert, die vor der Füllung cuvéetiert werden. Bei kürzerer Ausbauzeit auf der Hefe punkten diese Weine mit ihrer frischen Säure, der ausgeprägten Fruchtbetonung und ihren seidigen Tanninen. Bereits in ihrer Jugend bereiten diese Weine großen Trinkspaß.
Bei längerer Ausbauzeit verfügen die Weine über ein beachtliches Alterungspotential, Eleganz, Tiefe und Komplexität. Mit der Reife erhalten die oftmals helleren Weine von Silex-Böden neben roten Fruchtanklängen Noten von Tabakblättern, Räucherstäbchen und exotischen Gewürzen. Die Roten von den Terres Blanches-Böden erstrahlen in tiefem Rubinrot, haben in der Regel einen vollen, festen Körper mit samtigen Gerbstoffen und entwickeln mit der Zeit oftmals Aromen von Nelken und subtile pfeffrige Noten. Dabei erweisen sie sich als authentische Terroirweine, die in den kühlen Jahren wie 2011, 2014 und 2021 erdige Noten und Anklänge an Unterholz aufweisen, während in wärmeren Jahren das Fruchtprofil über zarte eingekochte Noten und Lederanklänge verfügt.
Und während unser Blick an diesem warmen Augusttag den steilen Hang zu unseren Füßen hinabschweift, machen wir zwischen all den Sauvignon-Blanc-Stöcken die Rebzeilen aus, an denen dunkle Weintrauben hängen. Sie gehören Matthieu Delaporte, der als einziger Winzer seinen Cul de Beaujeu aus Pinot Noir keltert. Und das weiße Steinkreuz in unserem Rücken wurde in Gedenken an seinen Onkel Jacques errichtet, der an einem stürmischen Tag auf dem Cul de Beaujeu war, als ihn an dieser Stelle ein Blitz traf.