Muscadet
Stein, Salz und Meeresfrüchte
Normalerweise fallen die Temperaturen im Pays Nantais, wo die Loire langsam in den Atlantik mündet, nur selten unter den Gefrierpunkt. Aber im Jahr 1709, dem kältesten Winter der vergangenen 500 Jahre, fror sogar die Atlantikküste zu. In der Folge gab es Missernten und eine schwere Hungersnot. Und nahezu alle Rebstöcke der nördlichen Weinregionen Frankreichs erfroren. Nur eine Rebsorte trotzte den eisigen Temperaturen: Melon de Bourgogne. Kein Wunder also, dass die Winzer um die Hafenstadt Nantes bei der Neubestockung ihrer Rebgärten nach der großen Kälte auf diese Rebsorte setzten, die heutzutage fast nur hier angebaut wird. Der daraus gekelterte Muscadet ist mittlerweile der meist exportierte Wein der Loire – und die klassischste aller klassischen Weinbegleitungen zu frischen Austern.
Die ersten Rebstöcke pflanzten die Römer im 1. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung in die Böden um die Stadt Nantes. Diese gehören zum südwestlichen Zipfel des Armorikanischen Massiv, einem Grundgebirgskomplex, der von der Alpenbildung kaum beeinflusst und nur geringfügig herausgehoben wurde. Der sanfte Hügellandcharakter der Landschaft mutet ein wenig wie die erstarrte Fortsetzung des nahen Atlantiks an. Hinzu kommt die ozeangleiche Weite der Landschaft.
Die Böden sind plutonischen und metamorphen Ursprungs und weisen eine große Vielfalt im Hinblick auf ihre Zusammensetzung und Eigenarten auf: sie bestehen aus Granit, Gabbro, Gneiss, Orthogneiss, Glimmerschiefer, Amphibolit und Serpentinit in verschiedenen Verwitterungsstufen, die zumeist von sandigen, lehmigen oder kiesigen Sedimenten aus dem Quartär und Tertiär bedeckt werden.
Das gemäßigte Klima ist in diesem westlichsten Weinbaugebiet Frankreichs selbstredend atlantisch geprägt. Die Sommer sind, wie auch die niederschlagsreicheren Winter, mild. Ungefähr 400 Winzer produzieren hier auf rund 7.000 Hektar Muscadet. Hierfür gibt es sechs verschiedene Appellationsbezeichnungen. Hinzu kommen zehn lokale Denominationen.
Und dann gibt es noch die Winzer, die sich irgendwann entnervt dazu entschieden haben, nicht mehr mit den örtlichen Kontrollgremien zu diskutieren, wie ein Muscadet denn zu schmecken habe. Weshalb sie ihren Muscadet einfach als Vin de France deklarieren. Diese Winzer gehören mitunter zu den besten der Region – wie beispielsweise Fred Niger von der Domaine de L’Ecu.
Melon der Bourgogne – von Melonen und Branntwein
Rund 95 Prozent der Rebflächen im Pays Nantais sind mit der Rebsorte Melon de Bourgogne bestockt. Daneben wird auch Gros Plant und Cabernet Franc angebaut. Muscadet aber wird stets sortenrein aus Melon gekeltert.
Wie der Namenszusatz suggeriert, stammt die Rebsorte vermutlich aus dem Burgund, wo sie heutzutage nicht mehr anzutreffen ist. DNA-Analysen haben nachgewiesen, dass es sich dabei um eine spontane Kreuzung von Pinot Noir und Gouais Blanc handelt. Was den Namen Melon betrifft, soll dieser von der Blattform der Rebe stammen. Wobei drei bis vier Gläschen Muscadet durchaus hilfreich sein können, um anhand der Form der Rebblätter treffsicher die assoziative Verbindung zu einer Melone herzustellen.
Wann die Sorte schlussendlich ins Pays Nantais kam, ist unklar. Aber François Rabelais (um 1493 - 1553) erwähnte sie bereits im 5. Buch seines Werks Gargantua und Pantagruel. Dann kamen die holländischen Händler, die auf der Suche nach Basisweinen zur Branntweinherstellung waren, um diese in die nordischen Länder exportierten.
Das Pays Nantais bot sich hierzu in besonderem Maße an. Denn der Hafen von Nantes vereinfachte die Logistik. Dann war da die schiere Menge an Wein - standen bis zur Reblaus-Katastrophe im Pays Nantais doch über 30.000 Hektar unter Reben. Und überdies eigneten sich die vergleichsweise aromatisch-neutralen Weine in besonderem Maße zur Destillation von Branntwein.
So schmeckt Muscadet
Denn Muscadets sind keine Aromabomben, sondern haben eine eher aromatisch-karge und steinige Anmutung. Dank der kühlen Nächte im Pays Nantais bewahren sie ihr typisches Säuregerüst. Ihr salziger Charakter weckt unmittelbare Assoziationen an den nahen Atlantik. Fülliger und aromatischer werden die Weine durch den Ausbau sur lie (auf der Feinhefe).
Diese Ausbaumethode wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt als Winzer besonders gute Fässer beiseitestellten, um sie bei Familienfeiern den Gästen anzubieten. Dabei stellten sie fest, dass die Weine durch den langen Kontakt mit der Hefe, die die Weine vor Oxidation schützt, runder und weicher wurden, ohne ihre vibrierende Mineralität zu verlieren, die diese Weine auszeichnet.
Traditionell werden die Weine in unterirdischen Betontanks ausgebaut, die mit Glas- oder Sandsteinplatten verkleidet sind. Findet sich auf dem Etikett der Zusatz „sur lie“ bedeutet dies, dass die Weine nicht vor dem 1. März des auf die Lese folgenden Jahres abgefüllt wurden. Aber viele der Topproduzenten lassen ihre Weine weitaus länger auf der Hefe reifen. Und sie verwenden ganz verschiedene Gärbehälter wie Amphoren oder Eichenfässer.
Mit der Zeit entwickeln diese Weine betörende florale Noten und gewinnen an Komplexität. Und im Gegensatz zu den einfachen, spritzigen Vertretern der Gattung, die am besten in ihrer Jugend Maienblüte genossen werden, haben sie ein weitaus höheres Alterungspotential, das problemlos ein Jahrzehnt beträgt.
Sie erweisen sich als authentische Terroirweine, die die geologischen und klimatischen Gegebenheiten widerspiegeln. Und sie bleiben trotz ihrer Kargheit ausgesprochen zugänglich und verfügen über einen Trinkfluss, vor dem es sich zu hüten gilt. Nur ein einziges Glas dieser Muscadets zu trinken, kann zweifelsohne als Nachweis großer Selbstdisziplin gewertet werden.
Sie eignen sich hervorragend als Solitär zum Aperitif und zeigen ihre ganze Klasse, wenn Meeresfrüchte - egal welcher Landesküche - auf den Tisch kommen. Nur gut, dass die Muscadet-Preise vergleichsweise moderat ausfallen. So bleibt noch etwas Geld für ein paar Austern übrig.