Chinon
Chinon – Trinkt!
Westlich der Stadt Tour beginnt das Reich der großen Rotweine von der Loire. Zwar sind es noch über zweihundert Kilometer, ehe der Fluss bei Saint-Nazaire in den Atlantik mündet. Aber dessen klimatischer Einfluss beginnt hier über den kontinentalen Einfluss zu obsiegen: die Temperatur-Amplitude wird flacher, die Winter sind nicht mehr so klirrend kalt und die Sommer dauern länger, ohne die Hitze der östlichen Loire. Hier, im äußersten Westen der Touraine, erstreckt sich am linken Loire Ufer, entlang des Nebenflusses Vienne die mit knapp 2.200 Hektar Rebfläche größte Rotweinappellation der Loire – Willkommen in Chinon!
Hoch über der Vienne thront die imposante Burgruine von Chinon auf einem Felssporn. Das Baumaterial für die Burg stammt aus dem darunter liegenden Felsen, zu dessen Gewinnung einst tiefe Höhlen in den porösen Kalkstein gehauen wurden. Heute lagern in diesen Höhlen unzählige Rotweinflaschen aus der Rebsorte Cabernet Franc.
Und es mögen diese Höhlen gewesen, die den Schriftsteller, Arzt und Theologen François Rabelais (um 1493 - 1553) zu seinem Tempel der göttlichen Flasche inspirierten. In seinem vielbändigen Chef d'Œuvre Gargantua und Pantagruel, einem der bedeutendsten literarischen Werke der Renaissance, schickt Rabelais, der in der Nähe des Städtchens Chinon geboren wurde, seinen Protagonisten Pantagruel mit dessen Freund Panurg auf eine abenteuerliche Reise. Panurg plagt sich mit dem Für-und-Wieder einer Heirat. Und das Orakel der heiligen Flasche soll ihm eine Antwort auf sein Fragen geben.
Gegen Ende dieser Reise steigt Panurg in Chinon zu dem besagten Tempel hinab, wo ihn die Priesterin Bakbuk zu einem Brunnen aus Alabaster führt: „Halb in demselben stand die hochgebenedeyte Boutelg, in lauter schönen spiegelhellen Krystall gekleidet, eyrund von Gestalt, nur daß die Mündung dran um ein klein wenig offener war als sonst zu dieser Form sich schicket.“ Und die heilige Flasche gibt ihm eine recht lapidare Antwort auf sein Fragen: „Trinkt!“. Denn, wie die Priesterin Bakbuk ausführt: „Trinken ist des Menschen Fürrecht: nicht das Trinken schlechthin an sich, denn auch das Vieh trinkt: sondern Wein trinken, alten, guten und kühlen Wein.“
Diese Erzählung mag wenig hilfreich sein, wenn Sie etwaige Heiratsabsichten haben. Aber sie liefert die perfekte Gebrauchsanweisung für einen einzigartigen Weingenuss: Man nehme eine zehn, 15 oder sogar 20 Jahre alte Flasche Chinon, der von den Südhängen bei Cravant-les-Côteaux östlich von Chinon stammt und serviere den Wein bei kühlen 14°C. Doch beginnen wir zunächst von vorne.
Tuffeau, Wald und der Ozean – Klima und Boden im Chinon
Das Chinonais ruht im äußersten Westen der Touraine auf einem rund 100 Meter dicken Kalksteinsockel, der vor rund 90 Millionen Jahren, im erdgeschichtlichen Zeitalter der Oberkreide durch die Sedimentierung von Fossilien entstand. Dieses Kalksteinplateau wird von zwei Tälern durchschnitten: Im Norden von der Loire, im Süden von der Vienne, die bei Candes-St-Martin in die Loire mündet, dem westlichsten Zipfel der Appellation Chinon.
Die beiden Flüsse gruben sich in Jahrmillionen in den Tuffeaustein, formten steile Hänge und schufen aus dem von der Strömung mitgerissenen Material Terrassen aus kiesig-sandigen Schwemmlandböden. Auf dem dazwischen liegenden ton- und kalkhaltigen Plateau nordwestlich des Städtchens Chinon finden sich örtlich sandig-lehmige Bodenformationen. Hier herrscht ein besonders warmes Mesoklima, das gemeinsam mit der für die Region ungewöhnlichen Vegetation (Wacholder, Mandelbäume, Seekiefer, Schlangenwurz) wie eine mediterrane Insel in diesen nördlichen Breiten wirkt. Die generell kühlen Kalksteinböden haben oftmals eine gelb- oder sienafarbene Tönung, weshalb sie sich schneller erwärmen als die helleren Böden im benachbarten Saumur.
Im Nordosten des Plateaus erstreckt sich ein Wald über rund 5.000 Hektar, der ein Bollwerk gegen Nordwinde bildet und die Weinberge von Chinon vor Kälte schützt. Im Westen temperiert der Wald von Fontevraud die Luftmassen. Deshalb ist Chinon mit seinem ozeanischen bis halbkontinentalen Klima wärmer und trockener als der Rest der Region. Ob ein Jahr warm oder kühl ausfällt, hängt maßgeblich mit den Luftströmen zusammen, die entlang der beiden Flusstäler ziehen: Die kühlen Jahre werden von den trockenen Ostwinden dominiert, die warmen von den feuchten Südwestwinden.
Cabernet Franc – der Wein der Bretonen
Knapp 200 Winzer produzieren hier in 26 Gemeinden an beiden Ufern der Vienne Wein zumeist auf südorientierten Lagen. Nur rund zwei Prozent davon sind Weißwein aus der Rebsorte Chenin Blanc, acht Prozent fallen auf Rosé. Die restlichen 90 Prozent sind Rotwein, der aus der Rebsorte Cabernet Franc gekeltert wird, die hier auch Breton genannt wird und seit dem 11. Jahrhundert an der Loire angebaut werden soll. Ihre erste schriftliche Erwähnung findet die Rebsorte in Rabelais Gargantua und Pantagruel, wenn er von diesem „edlen Bretanier“ spricht, „der gar nicht in Bretanien wächst, sondern hieselbst“.
Der Name Breton soll von den bretonischen Schiffern stammen, die im 11. Jahrhundert den Bootsverkehr auf der Loire kontrollierten und als erste die Cabernet Franc-Setzlinge in die Touraine gebracht haben sollen. Die Rebsorte stammt vermutlich aus dem Baskenland. Sie ist mit Cabernet Sauvignon und Sauvignon Blanc verschwistert und ist der leibliche Vater vom Merlot. Im Bordeaux ist sie eine der sechs zugelassenen roten Rebsorten. Sortenrein wird sie in Frankreich aber vor allem an der Loire ausgebaut.
Am wohlsten fühlt sie sich auf kargen kalkhaltigen und sandigen Böden. Sie kommt auch mit kühleren klimatischen Bedingungen in nördlichen Regionen zurecht, verlangt aber südlich oder süd-westlich exponierte Lagen, um ihr Potential zu entfalten. Das Lesefenster ist eng und die Wahl des richtigen Zeitpunkts erfordert Fingerspitzengefühl. Werden die Trauben zu früh gelesen bekommt der Wein grasige und unreife Paprikanoten. Werden sie zu spät gelesen verliert der Wein seine aromatische Fülle.
Trinket jeden Tag und Ihr werdet niemals sterben!
Und die hat es in sich: aus dem Glas strömen Anklänge an rote Beeren (Erdbeeren, Himbeeren, Johannisbeeren), an grünen Pfeffer, Veilchen, Lakritz, Süßholz und oftmals animalische Noten, die gerne als „Ledersattel“ bezeichnet werden. Und da die Beerenhaut von Cabernet Franc deutlich dünner ist als die der Cabernet Sauvignon-Beeren, verfügen die Weine aus Chinon über weniger Gerbstoffe und verbreiten ein seidigeres Mundgefühl. Sollten die Weine in nur einem Wort beschrieben werden, käme man irgendwann unabdingbar zum Wort „Eleganz“.
Von den Schwemmlandböden am Fluss stammen leichtere Weine, die bereits nach zwei bis drei Jahren genossen werden können. Sie sind die conditio sine qua non jeder authentischen Bistrokarte. Dichter und kräftiger, mit weit größerem Reifepotential geraten die Weine von den lehmigen Kies- und Sandböden aus den Gemeinden Cravant-les-Côteaux und Chinon, sowie deren steilen Kalksteinhängen.
Womöglich waren sie es, die François Rabelais , den größten Fürsprecher der Weine aus Chinon, zu seinem Lebensmotto inspirierten: „Beuvez tousjours, Ne meurez jamais“ – Trinket jeden Tag und Ihr werdet niemals sterben! Und wer beim Lesen dieses Mottos empört zusammenzuckt und glaubt, dass dies ein bloßes Plädoyer für einen maßlosen Weinkonsum sei, der überliest die zwingende Logik dieses Satzes, aus der dieser seine subtile Komik bezieht. Und Subtilität wäre ein Epitheton, das durchaus auch auf die Weine aus Chinon zutrifft.