Anjou
Anjou – Comeback einer Region
Das südlich der Stadt Angers gelegene Anjou mag je nach vinophilen Vorlieben ganz unterschiedliche Assoziationen wecken. Denn rund ein Drittel aller Loire-Weine stammt von hier. Und den allergrößten Teil davon machen restsüße Rosés aus - wie beispielsweise die als AOC Cabernet d’Anjou-vermarkteten Weine, die jede zehnte Flasche zur gesamten Loire-Weinproduktion besteuern. Da die Belanglosigkeit dieser Weine für gewöhnlich aber proportional zu ihrer großen wirtschaftlichen Bedeutung als Massenwein ausfällt, gelangen diese Weine kaum auf den deutschen Markt. Und so werden hiesige Weintrinkerinnen bei dem Namen Anjou zuallererst an frische Rotweine, vor allem aber wohl an die herausragenden Weißen aus der Rebsorte Chenin blanc denken.
Mit großer Wahrscheinlichkeit stammt die vielseitige Cépage noble sogar aus dem Anjou, wo sie seit dem 9. Jahrhundert bekannt ist - wenngleich ihr heutiger Name wohl vom Kloster Mont-Chenin in der Touraine stammt. Ursprünglich aber hieß sie Plant d’Anjou. Und auch wenn die Qualität der daraus gekelterten Weine zuallererst von den Fähigkeiten des Winzers abhängt, vermag die Rebsorte in besonderem Maße die klimatischen und geologischen Gegebenheiten ihres Standorts widerzuspiegeln. Und diese geraten im Anjou ausgesprochen vielgestaltig – was folglich zu einer Vielzahl ganz unterschiedlicher Weine führt.
Vom weißen Kalkstein und vom schwarzen Schiefer – Klima und Geologie des Anjou
Von Angers fließt die Loire rund 150 Kilometer bis Saint-Nazaire, wo sie in den Atlantik mündet. Womit das Klima im Anjou selbstredend atlantisch geprägt ist, wenngleich erste kontinentale Einflüsse spürbar werden. Die Erhebungen von Mauges im Westen, sowie die Wälder der Vendée im Süden schützen die Weinberge vor feuchten Atlantikwinden, weshalb die Niederschlagsmengen vergleichsweise gering ausfallen. Die südlichen Loire-Zuflüsse Layon, Aubance und Louet sorgen mit ihren Tälern, Hängen und Plateaus für zahlreiche Mesoklimata, die aus der Exposition der Weinberge, der Entfernung zu den Flüssen und der Wärmespeicherkapazität der Böden resultieren.
Ein besonderes Augenmerk aber verdienen die geologischen Gegebenheiten: Mag der Layon auf den ersten Blick wie ein unscheinbares Flüsschen anmuten, so markiert sein Lauf eine bedeutende geologische Umbruchstelle. Denn hier treffen die durch Sedimentation von Muscheln und Seelilien entstandenen Kalksteinböden des Pariser Beckens, die den gesamten östlichen Lauf der Loire prägen, auf die weitaus älteren Böden des Armorikanischen Massivs.
Bei letztem handelt es sich um einen Grundgebirgskomplex im Nordwesten Frankreichs. Weil er von der Alpenbildung nicht beeinflusst wurde, liegen weite Teile dieses Gebiets niedriger als der überwiegende Teil des Pariser Beckens. Die Böden sind metamorphen Ursprungs, was bedeutet, dass sie über Jahrmillionen in der Erdkruste unter Druck und erhöhten Temperaturen Umwandlungsprozessen unterworfen wurden. Gemeinhin fassen wir diese vielgestaltigen Gesteinsarten im Anjou verkürzt unter dem Schlagwort Schiefer zusammen. Und wegen des Kontrasts von dunklen Schiefer- und hellen Kalksteinböden wird der westliche Teil des Anjou von seinen Bewohnern L’Anjou Noir genannt, während der östliche Teil L’Anjou Blanc heißt.
Von englischen Königen und holländischen Händlern – kurze Geschichte des Weinbaus im Anjou
Wein wird im Anjou bereits seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. angebaut. Eine erste Blüte erreichte der Weinbau im frühen Mittelalter unter der Schirmherrschaft der Klöster. Damals galten diese Weine als den Weißen aus dem Burgund ebenbürtig. Königliche Weihen erhielten die Anjou-Weine im 12. Jahrhundert mit der Besteigung des englischen Throns durch Henri Plantagenet, dem Grafen vom Anjou, der die Weine an seiner Tafel kredenzen ließ.
Im 16. Jahrhundert kamen die holländischen Händler ins Anjou, um Weine für die Heimat und die holländischen Kolonien aufzutreiben. Der große Bedarf der Holländer führte zu einem wirtschaftlichen Aufschwung in der Region, der bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts reichte. Aber mit dem Beginn der Kriege in der Vendée und der damit einhergehenden Verwüstung der Weinberge brach der Weinhandel im Anjou zusammen.
Im 19. Jahrhundert ging es für Winzer und Händler langsam wieder bergauf. Gegen Ende des Jahrhunderts waren rund 45.000 Hektar mit Reben bestockt. Dann erreichte die Reblaus im Jahr 1893 das Anjou und dezimierte die Rebfläche auf unter 10.000 Hektar. Heutzutage beträgt die Rebfläche ungefähr 12.000 Hektar.
Bei der Neubestockung der Weinberge nach der Reblauskatastrophe setzten die Winzer - anstatt auf den bis dahin vorherrschenden Chenin blanc - vornehmlich auf rote Rebsorten. Auch auf solche, die für das nördliche Randklima eigentlich ungeeignet waren, wie z.B. Cabernet Sauvignon. Daraus wurden Rouget-genannte Weine gekeltert – blasse, leichte Rotweine für die Bistrots, deren grüne Säure gerne mit einem höheren Restzuckergehalt kaschiert wurde. Aus ihnen entwickelte sich die Kultur der kommerziell erfolgreichen, restsüßen Rosés als Massenwein. Aber diese Weine sorgten für einen beträchtlichen Renomméeverfall des Anjou, weshalb noch heute einige der besten Winzer der Region - wie beispielsweise Mark Angeli - ihre Weine lieber als Vin de France klassifizieren.
Ab den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts aber begann sich das Bild zu wandeln. Dank ihres Erfahrungsschatzes bestockten die Winzer nurmehr die Weingärten mit roten Rebsorten, in denen die Beeren auch ausreifen konnten. Mittlerweile haben die als AOC Anjou-klassifizierten Roten ein beachtliches Niveau erreicht – aufgrund von Handlese, rigoroser Selektion des Traubenmaterials, einem dezenteren Einsatz von neuem Holz und nicht zuletzt, weil die Auswirkungen des Klimawandels den Winzern in die Hände spielen.
Der Star der Region aber ist heute wieder der Chenin blanc, wenngleich gerade mal ein Sechstel der Rebflächen mit ihm bestockt ist. Hier im Anjou, mit seinen vielfältigen geologischen und klimatischen Gegebenheiten und der Schar talentierter Winzer, kann die vielseitige Rebsorte all ihre Qualitäten ausspielen.
Von süßen Weißen und frischen Roten – die Weine des Anjou
Dies zeigt sich exemplarisch am Flüsschen Layon. Viele der brachliegenden, steilen und nur mühsam zu bearbeitenden Hänge am rechten Flussufer wurden neu bestockt. Aufgrund der herbstlichen Morgennebel, die im Tagesverlauf von der Mittagssonne und Westwinden vertrieben werden, bieten diese Lagen beste Voraussetzungen für die Ausbildung der Edelfäule. Ihre südsüdwestliche Exposition sorgt für einen hohen Zuckergehalt in den Beeren. Wobei die hohen Säurewerte der Rebsorte Chenin blanc ein vollendetes Gegengewicht zum Zucker garantieren.
Damit sind alle Voraussetzungen für langlebige und vielschichtige Süßweine gegeben. Diese eleganten und verspielten Weine kommen als Coteaux du Layon (rund 1.700 Hektar) in den Handel. Hier befindet sich mit dem Quarts de Chaume (35 Hektar) auch die erste klassifizierte Grand Cru-Lage der Loire, die die komplexesten Süßweine hervorbringt.
Da Süßweine aber zunehmend aus der Mode gekommen sind, und die Winzer den spezifischen Eigenarten der Jahrgänge und Lagen mittlerweile größere Aufmerksamkeit widmen, werden hier heutzutage auch üppige und mineralische, trockene Chenin blanc - nebst Rotweinen aus den beiden roten Sauvignons, aus Grolleau Noir und/oder Pineau d‘Aunis - produziert, die beide als AOC Anjou vermarktet werden.
Die prestigeträchtigsten Chenin blanc im Anjou aber kommen vom rechten Ufer der Loire. Hier befindet sich die Appellation Savennières mit rund 150 Hektar Rebfläche. Auf dem acht Kilometer langen Streifen entstehen trockene, strahlende Weißweine von kristalliner Klarheit, dichter Struktur und festem Körper. Die südliche Exposition der Weinberge, die steil zur Loire abfallen, und die wärmespeichernden Schieferböden verleihen den Weinen ihre reichhaltige Substanz.
Dies gilt in besonderem Maße für den mythenumflorten Coulée der Serrant, der einen der größten Weißweine Frankreichs hervorbringt. Der gerade einmal sieben Hektar große Weinhang bildet eine weinrechtliche Enklave innerhalb der Appellation Savennières, die von dem Biodynamie-Pionier Nicolas Jolie bewirtschaftet wird und Weine von einzigartiger Konzentration und Kraft hervorbringt.
Es sind diese Weine, die bezeugen, dass das Anjou - jenseits des erwähnten Meers aus restsüßem Rosé - wieder ein Garant für Qualität geworden ist. Und das selbst im Hinblick auf die hier wachsenden Roten. Vor allem aber zeigen die Weißen aus Chenin blanc mit ihrer Kraft, Finesse, Mineralität und Langlebigkeit, dass die Rebsorte alle Nuancen der ganz unterschiedlichen Terroirs im Anjou en detail widerzuspiegeln vermag.